Blinde Gefolgschaft versus Fehlerkultur

Je anonymer Organisationen werden, desto mehr verselbständigen sich Annahmen über vermeintliche Spielregeln. Und umso schwerer wird es für Verantwortungsträger, wirklich gewollte Kultur bzw. Leitwerte in der Praxis lebendig zu halten.

Die Vorgänge rund um die Manipulationen bei VW offenbaren, wohin es schlimmstenfalls führen kann.

Ich bin kein VW-Experte, kenne das Unternehmen nicht wirklich von innen. Ich höre Gerüchte, Zulieferererfahrungen und lese Zeitung.
Dabei zeichnet sich ein Bild ab, das in Großunternehmen immer wieder vorzufinden ist: Hierarchie verselbständigt sich als Mindset.
Am Ende steht entweder blinder Gehorsam oder Schönmalerei.

Versteckt werden diese Auswüchse übrigens gern hinter dem Begriff „Politik“.
Nicht verwunderlich, dass in Coachings mit Aufsteigern in immer höhere Verantwortungsbereiche seltener der Wunsch steht, wie strategisches Denken und Handeln entwickelt, Kontrollkultur vermieden und Innovation erhalten bleiben kann.
Vielmehr geht es oftmals eher darum, wie man sich denn politisch-taktisch zu verhalten hätte. Echte, aufrichtige und im Sinne des Ganzen kontroverser Dialog scheint in den Chefetagen nur begrenzt erwünscht zu sein. Kein Wunder, dass ab bestimmten Hierarchieebenen nur noch grünes Licht nach oben signalisiert wird…

Die Wahrheit hören, sich die Konsequenzen eigener Entscheidungen für die unternehmerische Praxis zumuten, den tatsächlichen Problemen stellen zu wollen - all das ist gerade dann anstrengend, wenn man der Ergebnisse willen eine Organisation auf Effizienz drillt, ohne langfristige innere Werte zu verfolgen.
Da mag auch ein Motivationsunterschied zwischen Unternehmern und angestellten Managern/Geschäftsführern liegen.

Daniel Sennheiser (Geschäftsführer des familiengeführten Kopfhörerherstellers) formuliert es im Interview u.a. so:
„Es geht darum, ob man sein Ego so weit abgestoßen hat, dass man Entscheidungen treffen kann, die zum Wohle des Unternehmens sind.“

Kurzfristig mögen bestimmte Mindsets durchaus erfolgreich sein.
Wer jedoch auf Dauer Kreativität, Souveränität, Kontroverse und Fehlertoleranz aus einer Organisation vertreibt, der riskiert die Zukunftsfähigkeit.
Denn am Ende verliert die Suche nach der besten oder neuen Lösung, nach dem Sinn für den Kunden oder der Mut zum Versuch.

Hierarchische Strukturen ohne große Widerstände haben für alle Führungskräfte natürlich einen großen Vorteil:
sie ermöglichen große Kontrolle, sichern Vorhersagbarkeit und manifestieren Machtgefüge.

Davon loszulassen ist für Führungskräfte mitunter wenig attraktives Neuland - insbesondere, wenn sie selbst nach anderen Maßstäben geführt werden.
Die Kunst des Loslassens und der Augenhöhe zeichnet zugleich echte Leadershippersönlichkeiten aus.
Diese lassen zudem einen Raum entstehen, in dem lösungsorientierter Diskurs möglich ist, Diversität fruchtbare Kreativität fördert und Menschen mit Freude ihre beste Leistung zeigen wollen. 
 Sie sind im besten Sinne mehr soziale Architekten als Strukturmanager.

Und sie wissen, dass Kultur nichts ist, was sich verordnen oder anweisen lässt, sondern stets von innen heraus zu entwickeln, gestalten und zu leben ist.
Und dafür braucht es aufrichtigen Dialog und Emotionalität.
Und es braucht noch etwas, das Andreas Sennheiser auf den Punkt bringt:
„Unabhängigkeit ist wichtiger als Wachstum. Größe ist nicht so ein Riesenvorteil. Das geht nur, wenn wir nicht an Quartalsergebnissen gemessen werden.“