Gute Gewohnheit, vertrautes Ritual? Oder Macht der Gewohnheit und Betriebsblindheit?

Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Sich zu ändern, ist harte emotionale Arbeit.

Erinnern Sie sich noch an die ersten Fahrstunden?
An das Geruckel beim Schalten und das Abwürgen des Motors, an die Konzentration auf den Verkehr, die Anweisungen des Fahrlehrers und den Stress ob der vielen anderen Verkehrsteilnehmer?

Und wie ist es heute? Hören Sie auch nebenher noch ein Hörbuch, tippen auf dem Smartphone und düsen mit 120+x Sachen über die Bahn? Ohne beim Aussteigen wirklich zu wissen, wie Sie hergekommen sind?


Willkommen im Automatikmodus Ihres Gehirns.

Gerade bei motorischen Vorgängen lernt das Gehirn besonders fix und sorgt zügig für unbewusste Routinen. Schauen Sie mal einem Kleinkind zu, wie fix es Laufen lernt.
Dummerweise hat die Evolution aus Energiespargründen nicht nur für motorische Vorgänge diese Automatikfunktion entwickelt. Im Grunde funktioniert der Großteil unseres Verhaltens derart. Bevor unser Bewusstsein auch nur mitentscheiden darf, hat die Intuition bereits entschieden.
Dass ich mir gerade beim Schreiben am Auge gerieben habe, wird mir wohl nur bewusst, weil ich in diesem Moment zu diesem Thema schreibe…

Gewohnheit lohnt sich. Sie sorgt für gute Gefühle bzw. sorgt auf Basis unserer Erfahrungen wenigstens für die Vermeidung schlechter Gefühle.
Alles, was um uns herum geschieht, ist erst einmal wertfrei.
Unsere persönliche Wertung entsteht in unserem Kopf.
Ganz individuell.
Für den einen ist ein Tor der Bayern ein Grund, zu fluchen, für den anderen ein Grund, sich zu freuen.
Es ist alles nur in unserem Kopf.

Wirksam sind da Belohnungs- und Emotionssysteme. Leider sind diese nicht abhängig von unserem bewussten und rationalen Denken, von unserer Disziplin, unseren Vorhaben und guten Vorsätzen. Sehr wohl aber umgekehrt.

Daher stimmt das sizilianische Sprichwort, dass zwischen Reden und Tun das Meer liegt.

Jede Gewohnheit hat erst einmal ihr Gutes. Sie dient einem emotionalen Zweck, hat einen Sinn. Da mag der Verstand noch so sehr signalisieren, dass ein Verhalten veränderungswürdig sei - ohne dem Sinn auf den Grund zu gehen, wird eine Veränderung schwierig.

Denn gern wird ja propagiert, man müsse nur den Hintern hochbekommen und einfach die Finger vom bisherigen Verhalten lassen, dann gelinge auch Veränderung. Dabei landet man dann gern in der Überkompensation.
Statt zu viel, zu fettig und zu reichhaltig zu futtern, beginnt dann das Leben als Asket.
Oder statt überengagiert anderen unter die Arme zu greifen, ist man plötzlich nur noch nach dreimaligem Bitten bereit, seine Hilfe zu bieten.
180°-Wendungen führen halt ins andere Extrem.

Setze ich mich mit dem Sinn meines Verhaltens auseinander, lerne ich meine emotionale Wahrheit anders kennen.
Wer beispielsweise gern isst, belohnt sich damit selbst für erbrachte Leistung oder futtert seinen Frust herunter statt ihn auszudrücken.
Mit dieser Erkenntnis kann jedoch eine Verhaltensänderung beginnen, die nicht mehr heißt „weg-von“, sondern „hin-zu“:
Wie kann ich dieses Bedürfnis anders befriedigen?
Welches andere Verhalten sorgt gleichsam für dieses gute Gefühl?

Mit Wozu? zu starten, sorgt zugleich für Versöhnung.
Mit sich selbst und seinen guten Gewohnheiten.
Denn sie erfüllen einen Zweck.
Auch wenn der vielleicht peinlich, tabuisiert, merkwürdig scheint. Diesem Zweck können wir eben auch mit anderem Verhalten dienen, das zugleich täglich einzuüben ist, damit sich neue Gewohnheiten aufbauen.

Mitunter erscheint uns der Zweck aber nicht als heiligende Kraft.
Dann gelingt es leider nicht, ihn zu verfluchen oder zu verneinen oder einfach abschalten zu wollen.
Es braucht einen anderen.
Welches gute Gefühl soll das bisherige ablösen?
Wie will ich mich zukünftig fühlen (kenne ich das Gefühl überhaupt?)?
Statt des Zugehörigkeitsgefühls bei der Hilfe für andere könnte der Stolz auf ein Nein erstrebenswert sein. Welche Emotion angestrebt wird, also wie wir uns stattdessen fühlen wollen, können wir immer nur ganz persönlich selbst beantworten.
Und ab da heißt es, diesem Gefühl möglichst bewusst, möglichst häufig Raum zu geben.
Es wahrzunehmen, wirklich zu spüren, ggf. Tagebuch dazu zu führen und sich mit dem neuen emotionalen Sinn meines Verhaltens anzufreunden.
Das ist echte emotionale Arbeit.